Der stetige Anstieg der Lockdown-Einsamkeit

Ist das Alleinsein die Lepra unserer Zeit? Neuesten Statistiken zufolge leiden mehr Menschen denn ja an Einsamkeit. Es öffentlich zuzugeben ist tabu, und das macht das Gefühl nur schlimmer.
Ein Wolf heult, wenn er sein Rudel vermisst. Eine Kuh brüllt, wenn sie Gesellschaft sucht.
Wenn diese Kuh in den britischen Ort Belper ziehen würde, fühlte sie sich wohl weniger allein. Jeden Abend halten die Bewohner hier ein zwei Minuten langes Gemeinschafts-Muhen gegen die Lockdown-Einsamkeit.
Einsamkeit ist eine Begleiterscheinung von Covid-19. Einem Bericht des britischen Statistikbüros ONS zufolge fühlen sich 4,2 Millionen Erwachsene „oft oder immer“ einsam – ein großer Anstieg seit März.
Die Zahl der einsamen Menschen in den entwickelten Ländern nimmt zu. Mann nennt die Einsamkeit die „stille Seuche“ oder die „Lepra des 21. Jahrhunderts“.
Einsame Menschen fühlen sich ausgegrenzt und suchen oft keine Hilfe, weil sie das Stigma befürchten.
Es gibt Hilfsvereine, die sich der Einsamkeit widmen. Die britische Regierung hat einen Minister für Einsamkeit ernannt.
Krankeiten werden von Erregern verursacht, aber die Einsamkeit entstammt unseren Gefühlen. Die Historikerin Fay Bound Alberti beschreibt sie als ein „komplexes Bündel der Gefühle“.
Einsamkeit hängt von der Gesellschaft ab. Alberti verglich den Anstieg der Einsamkeit mit dem Rückgang an engen Gemeinschaften. Vor 1900 lebten nur 1 % der Weltbevölkerung allein; heute sind 30 % aller japanischen Haushalte Singles.
Die Experten weisen darauf hin, dass einsam sein nicht dasselbe ist wie allein sein.
Ist Einsamkeit wie Lepra?
Einsam und allein
Ja. Wir leben immer isolierter, und Einsamkeit hat sich als ansteckend herausgestellt. Sie wird in der Gesellschaft übertragen. Sie bringt Gefühle der Scham, des Versagens und der Demütigung mit sich. Die Symptome mögen andere sein, sind aber in der Art, wie sie uns prägen, vergleichbar.
Nein. Wenn wir einen komplexen psychologischen Zustand mit einer Krankheit vergleichen, missverstehen wir ihn. Wir spielen die gesellschaftlichen Veränderungen herunter, die ihn schüren. Einsame Menschen mögen sich stigmatisiert fühlen, aber sie mit Aussätzigen zu vergleichen, ist unbedacht.
Du Entscheidest
- Kann man sich einsam fühlen, wenn man nicht allein ist?
Aktivitäten
- Write a paragraph or two, in German, about the last time you felt lonely. Give as much detail as possible, e.g. why you were lonely, how long the feeling lasted, and what you did to make you feel less lonely.
Manche Leute Sagen
„Ich bin gerne allein. Ich habe noch keinen Gefährten gefunden, der so gesellig ist wie das Alleinsein.“
Henry David Thoreau (1817–1862), US-amerikanischer Essayist, Philosoph und NaturfreundWas meinst Du?
F & R
- Was wissen wir?
- Es gilt als allgemein anerkannt, dass die Angst vor dem Alleinsein entwicklungsgeschichtlichen Ursrpungs ist. Der einflussreiche Neurowissenschaftler John Cacioppo fand heraus, dass der menschliche Körper allein sein als Notsituation interpretiert. Anthropologen an der Oxford University haben dies bis auf die ersten Primaten zurückverfolgt, für die Gesellschaft überlebenswichtig war. Das menschliche Konzept der Einsamkeit erschien als Reaktion auf Gefahr. Als das Wort „loneliness“ zum ersten Mal im Englischen auftauchte, beschrieb es den Zustand, weiter von anderen entfernt zu sein als sicher ist.
- Was wissen wir nicht?
- Die Debatte, inwiefern unsere entwicklungsgeschichtliche Angst vor dem Alleinsein mit dem kognitiven Zustand der Einsamkeit zusammenhängt, ist noch offen. Die Historikerin Fay Bound Alberti behauptet, dass Einsamkeit, so wie wir sie heute verstehen, zuerst im 19. Jahrhundert aufgetreten ist, als die Menschen weniger auf Beziehungen mit anderen angewiesen waren, um ihr Leben zu führen. Albertis Vorstellung von Einsamkeit, in der diese einer individualistischen Philisophie und kapitalistischen Wirtschaft von modernen, liberalen Gesellschaften entstammt, steht im Kontrast mit der Einsamkeit, wie sie von der Neurowissenschaft definiert ist.
Wichtige Begriffe
- Rudel
- pack
- Brüllt
- bellows
- Muhen
- mooing
- Einsamkeit
- loneliness
- Begleiterscheinung
- side effect
- Statistikbüros
- office of statistics
- Entwickelten Ländern
- developed countries
- Seuche
- plague
- Lepra
- leprosy
- Ausgegrenzt
- cut off
- Hilfsvereine
- charities
- Erregern
- pathogens
- Entstammt
- derives from
- Haushalte
- households
- Ansteckend
- contagious
- Scham
- shame
- Versagens
- failure
- Demütigung
- humiliation
- Aussätzigen
- lepers (those suffering from leprosy)
- Stört
- disrupts
Werde Experte
- In diesem Interview werden junge Leute gefragt, wie sie mit dem Lockdown umgehen. Viele fühlen sich einsam ohne ihre Freunde. BR (5:31)
- Ein interessanter Artikel bei Deutschlandfunk, der die Coronakrise in England beleuchtet und u.a. auch über das Ministerium für Einsamkeit berichtet, das vielen unbekannt ist. (554 Wörter)
- Auch die Frankfurter Rundschau beschäftigt sich mit dem Thema Einsamkeit zu Corona-Zeiten, wie man international dagegen vorgeht, und was es für uns alle bedeutet. (1,964 Wörter)