Ist das der größte Skandal unserer Zeit? Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks ist die Fluchtroute über das Mittelmeer so tödlich wie nie zuvor. Aktivist:innen sagen, Europa lasse die Migrant:innen im Stich und verschlimmere die Krise.
Mehr als 25.000 im Mittelmeer vermisst
Ist das der groSste Skandal unserer Zeit? Nach Angaben des UN-Fluchtlingshilfswerks ist die Fluchtroute uber das Mittelmeer so todlich wie nie zuvor. Aktivist:innen sagen, Europa lasse die Migrant:innen im Stich und verschlimmere die Krise.
Festung Europa
Nasenet hat ihren Sohn seit acht Jahren nicht mehr gesehen. Im Jahr 2015 lieSs sie Yafet im Sudan zuruck und wagte die gefahrliche Reise durch die Wuste und uber das Meer nach Europa. Sie braucht die Zustimmung von Yafets Vater, um ihn zu sich nach Deutschland zu holen. Doch sein Vater, Biniam, ist auf dem Meer verschollen und gilt als tot.
Sie sind nicht allein. Tausende von Menschen in Europa haben bei der Uberfahrt uber das Mittelmeer ihre Angehorigen verloren. Laut der Psychiaterin Marzia Marzagalia leiden die Uberlebenden unter Albtraumen, Panikattacken und Depressionen. Da ihnen ein Leichnam zur Bestattung oder Einascherung fehlt, leben sie in der "emotionalen Holle".
Seit 2014 haben mehr als zwei Millionen Menschen versucht, Europa per Boot zu erreichen. Mindestens 25.000 sind ertrunken, was das Mittelmeer zur todlichsten Migrationsroute der Welt macht. Die meisten kommen aus Nordafrika und dem Nahen Osten und fliehen vor Krieg, Verfolgung, Armut und Hunger.
Gelegentlich sorgt die Krise fur Schlagzeilen - wie am 3. Oktober 2013, als die Uberreste von 366 ertrunkenen Fluchtlingen in einem Fischerboot vor der italienischen Insel Lampedusa gefunden wurden. "Zum ersten Mal", so der eritreische Aktivist Tareke Brhane, "hat uns das Meer die Leichen zuruckgegeben". Einer von ihnen konnte der Vater von Yafet gewesen sein.
Doch Schlagzeilen verblassen und die Leute vergessen. Die UNO spricht von einer "vergessenen Tragodie ", die immer schlimmer wird. Der tunesische Forscher Nadhem Yousfi sagt, Europa habe an seiner Sudgrenze einen "Friedhof der Menschen und der Hoffnung" gegraben. Und es muss etwas getan werden.
Nicht alle stimmen dem zu. Einige sagen, die Migrant:innen kennen das Risiko. Wenn man sie rettet, ermutigt man noch mehr von ihnen zu kommen. Und das Geld, das fur die Suche nach Leichen ausgegeben wird, konnte fur den Schutz der Grenzen verwendet werden.
Bei den Wahlen im vergangenen Jahr wurde in Italien eine rechtsextreme Nationalistin gewahlt, die fest daran glaubt, dass ihr Land besser ist als alle anderen. Giorgia Meloni unter dem Slogan "Stoppt die Anlandungen". In Griechenland stehen derweil 24 Freiwillige, die Fluchtlinge aus dem Meer gerettet haben, nun wegen Menschenhandels vor Gericht.
Andere sagen, Europa musse Todesfalle verhindern und die Leichen finden. "Zu wissen, ob der eigene Sohn tot ist oder nicht, ist ein Grundrecht", argumentiert die Expertin Cristina Cattaneo. Sie hilft Migranten bei der Suche nach Angehorigen.
Cattaneo mochte, dass sichere Routen nach Europa geoffnet werden. "Es darf einfach nicht so viele Tote geben", sagt sie. Aktivisten sagen, die EU trage zur Zahl der Toten bei, indem sie Rettungsversuche verhindere.
Der italienische Politiker Luigi Di Maio bezeichnet Seenotrettungseinsatze als "Migranten-Taxi", der Menschenschmugglern hilft. Die Forscherin Laura Schmeer sagt jedoch, dass das Risiko zu sterben auf ein Rekordniveau gestiegen sei, seit Italien die Rettungseinsatze gestoppt hat.
Und da immer mehr Menschen ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen, konnte die Geschichte von Nasenet bald noch ofter Realitat werden.
Ist dies der groSste Skandal unserer Zeit?
Ja: Fluchtlinge im Mittelmeer werden ungleich behandelt. Letztes Jahr wurden Millionen von ukrainischen Fluchtlingen sicher in die EU gelassen. Europa konnte diese Tragodie morgen beenden, indem es humane Fluchtwege offnet.
Nein: Es gibt keine einfache Losung. Menschenhandler nutzen den Wunsch der Menschen aus, Europa zu erreichen. Es wird unmoglich sein, weitere Todesfalle zu verhindern, wenn die Zahl der Migranten steigt. Es ist eine Tragodie, aber nicht die Schuld Europas.
Oder... Diese schockierende Statistik ist Teil eines viel groSseren Skandals. Der Klimawandel wird Millionen von Menschen zur Migration zwingen. Angesichts einer globalen Krise mussen wir vielleicht die nationalen Grenzen vollig neu uberdenken.
der Fluchtling - refugee
die Flucht - flight
jemanden im Stich lassen (unregelmaSsig) - to let someone down
als etwas gelten (unregelmaSsig) - to be considered
fliehen (unregelmaSsig) - to flee
verschollen - missing
ertrinken - to drown
die Uberfahrt - passage
ermutigen (regelmaSsig)- to encourage
dieThe singular form of dice. Angehorigen - relatives and close friends
der Vorwurf - accusation
Mehr als 25.000 im Mittelmeer vermisst
Glossary
Die - The singular form of dice.