Ist eine Altersgrenze für die Strafverfolgung angebracht? Josef S. war 21 Jahre alt, als er 1942 zum ersten Mal als Wachmann in Sachsenhausen eingesetzt wurde. Er steht vor Gericht, weil er an der Ermordung von 3.518 Häftlingen beteiligt war.
100-jahriger SS-Wachmann steht vor Gericht
Ist eine Altersgrenze fur die Strafverfolgung angebracht? Josef S. war 21 Jahre alt, als er 1942 zum ersten Mal als Wachmann in Sachsenhausen eingesetzt wurde. Er steht vor Gericht, weil er an der Ermordung von 3.518 Haftlingen beteiligt war.
Im Osten Deutschlands stehen sich zwei alte Manner in einer Turnhalle gegenuber. Beide sind Deutsche, beide sitzen im Rollstuhl. Beide sind 100 Jahre alt.
Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Einer von ihnen ist Leon Schwarzbaum, ein Uberlebender des Holocausts. Der andere, dessen Gesicht hinter einem blauen Aktenordner verborgen ist und der nur Josef S. heiSst, war Mitglied der SS.
Josef S., der im November 101 Jahre alt wird, war Wachmann in Sachsenhausen - einem Konzentrationslager, in dem Schwarzbaums Familie inhaftiert war. Ihm wird vorgeworfen, „wissentlich und willentlich" an der Ermordung von 3.518 Menschen mitgewirkt zu haben.
Er wird fur sein Mitwirken bei den Graueltaten im Lager angeklagt, zu denen auch der Einsatz des Giftgases Zyklon B sowie die ErschieSsung sowjetischer Kriegsgefangener durch Exekutionskommandos gehoren. Er war 21 Jahre alt, als er 1942 eingetreten ist. Bei einer Verurteilung drohen ihm mehrere Jahre Haft.
Josef S. ist der alteste Tater, der wegen Naziverbrechen angeklagt wird. Er reiht sich ein in eine wachsende Zahl alterer Deutscher, die wegen Taten wahrend des Zweiten Weltkriegs belangt wurden.
Der erste Prozess wurde 2009 gegen den 89-jahrigen John Demjanjuk gefuhrt. Damals galt sein Fall als „Deutschlands letzter groSser Prozess gegen Kriegsverbrecher aus der Nazi-Zeit". Stattdessen markierte er eine neue Ära in der Jagd auf NS-Verbrecher.
Nach deutschem Recht verjahren die meisten Verbrechen nach einiger Zeit. Bei Mord ist das anders. Die Staatsanwaltschaft argumentierte damals, dass Demjanjuk als Wachmann in Sobibor wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden konne, ohne dass ihm ein einziger konkreter Fall nachgewiesen werden musste.
Seitdem gab es mehrere hochkaratige Falle. In einem Fall, dem des 93-jahrigen Johann Rehbogen, wurde das Verfahren eingestellt, nachdem er fur „dauerhaft prozessunfahig" befunden worden war. Im Fall, der 96-jahrigen ehemaligen Lagersekretarin Irmgard Furchner wurde der Prozess verschoben, nachdem sie versucht hatte, aus ihrem Pflegeheim zu fliehen.
Manche sind der Meinung, dass hier etwas nicht stimmt: eine sehr alte Frau soll wegen einer Tat, die sie vor einem dreiviertel Jahrhundert begangen hat, in Bedrangnis geraten? Sollten die Entscheidungen, die ein Teenager getroffen hat, fast acht Jahrzehnte spater noch Auswirkungen nach sich ziehen?
Millionen von Menschen, die in ahnlicher Weise mitschuldig waren, sind ohne Strafe gestorben. Warum sollten diejenigen, die bis ins hohe Alter leben, die Hauptlast tragen?
Das Naziregime wird fast einstimmig als bose gewertet. Mit der Schande zu leben, daran beteiligt gewesen zu sein, ist bereits eine Strafe.
Der Nazi-Jager Dr. Efraim Zuroff ist da anderer Meinung. Er habe „keinen einzigen Angeklagten gesehen, der ... Reue oder Bedauern geauSsert hatte". Wir sollten uns nicht von ÄuSserlichkeiten tauschen lassen. Josef S. mag jetzt gebrechlich sein, aber als er das Verbrechen beging, war er auf dem Hohepunkt seiner Krafte.
Und die Zeit heilt nicht alle Wunden. Christoffel Heijer, dessen Vater ein niederlandischer Widerstandskampfer war, der im Lager erschossen wurde, ist einer von 17 Nebenklager:innen im Prozess gegen Josef S. Er sagte der Berliner Zeitung: „Mord ist kein Schicksal, es ist kein Verbrechen, das nicht mit der Zeit verschwindet."
Ist eine Altersgrenze fur die Strafverfolgung angebracht?
Ja. Die Vergangenheit ist weit entfernt, und ein Dreivierteljahrhundert ist eine lange Zeit. Es ist absurd, eine Frau, die damals noch nicht einmal volljahrig war, fur Verbrechen zu bestrafen, die sie begangen hat, als sie gerade aus der Schule kam. Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, dass die Jugend von heute ihre Fehler nicht wiederholt.
Nein. Bei den Prozessen gegen Josef S. und andere ehemalige Nazis geht es nicht darum, einen einzelnen alten Mann zu bestrafen, sondern darum, das Bewusstsein zu scharfen, damit die heutigen Generationen die begangenen abscheulichen Verbrechen nicht vergessen. Wir mussen mit unserem Schlimmsten konfrontiert werden.
Altersgrenze - age limit
Strafverfolgung - prosecution
Wachmann - guard
Sachsenhausen - a former concentration camp near Berlin
Aktenordner - folder
Mitwirken - participation
Graueltaten - atrocities
ErschieSsung - shooting
gehandelt werden - to be treated as
Kriegsverbrecher - war criminal
verjahren - to have a statue of limitation
Staatsanwaltschaft - public prosecutor
ein Verfahren einstellen - to close a case
Pflegeheim - care home
mitschuldig - complicit
Reue - remorse
Bedauern - regret